von Christian Liebisch
“Meine Güte, was war das heute wieder für ein Theater!” Leider steckt hinter diesem Ausruf zumeist keine besonders gute Erfahrung. Wir verbinden es mit Chaos, nervigen menschlichen Konflikten und nicht zielführenden Scheingefechten. In der Pädagogik haben theater- und kunstpädagogische Ansätze auch oft den Ruf, aufwändig und mit viel Chaos verbunden zu sein. Sie seien vielleicht das Sahnehäubchen, wenn alles mal richtig gut laufe - so eine häufige Annahme. Und das sei in Zeiten von Corona und Fachkräftemangel eher selten der Fall.
Dabei können theater- und kunstpädagogische Methoden gerade ein Weg zu weniger Chaos und Konfrontation sein, ein Schlüssel für motivierende Lernsituationen. Sie können den Alltag erleichtern und sind dabei mehr als nur ein neues Konzept oder Programm: Sie können zu einer Haltung werden, die den pädagogischen Alltag mit Humor, Kreativität und Lebensfreude bereichert.
In folgendem Text verwende ich ein Verständnis von theater- und kunstpädagogischen Methoden, deren Ziel es ist, ein ganzheitliches, motivierendes Lernerlebnis zu kreieren. Die hier beschriebenen Lernziele liegen in der Verbesserung der allgemeinen Lernkompetenz. Zur Einordnung und Beschreibung dienen deshalb unterschiedliche Phasen des Lernprozesses.
Die methodischen Ansätze sind besonders für Kinder im Vorschulalter und in der Schuleingangsphase geeignet. In diesem Alter ist es ausgesprochen wichtig, einen ganzheitlichen, multimodalen Ansatz zu wählen. Eine rein kognitive Ansprache ist hier eher kontraproduktiv, insbesondere wenn das Sprachverständnis im Deutschen nicht ausgeprägt ist. Eine Vermittlung von Lerninhalten durch die Ansprache aller Sinne, durch modellhaftes Vorspielen, durch erlebnishafte Interaktion hat sich in jahrelanger Praxis als erfolgreich herausgestellt, besonders im Bereich der Sprachförderung.
Ich werde in diesem Artikel beschreiben, warum theater- und kunstpädagogische Methoden besonders gut geeignet sind, Aufmerksamkeit für einen Lerninhalt zu erzeugen, wie sie das Verständnis dieser Inhalte unterstützen, wie sie das wiederholende Üben attraktiv machen und wie sie einen ganzheitlichen Ansatz mit vollem Körpereinsatz ermöglichen.
Zu guter Letzt möchte ich mich mit den Widerständen beschäftigen, auf die ich im Laufe meiner Entwicklungsarbeit gestoßen bin. Um theater- und kunstpädagogische Methoden im pädagogischen Alltag fruchtbar zu machen, gilt es, diesen Alltag bei der Vermittlung mitzudenken. PädagogInnen, die keinen direkten Zugang oder Vorbehalte gegenüber diesen Methoden haben, möchte ich Brücken bauen. Ich möchte für die Entlastung werben, die durch die spielerische Freiheit erreicht werden können.
AUFMERKSAMKEIT
Startpunkt für den Lernprozess ist das Interesse am Lernziel. Aufmerksamkeit und Neugier sind die Voraussetzung, um intrinsisch motiviertes Lernen anzustoßen. Theatrale und künstlerische Elemente sind ideal geeignet um Neugier für Themen zu wecken und diese positiv zu besetzen. Der fantastische Rahmen, der mit diesen Mitteln gebaut werden kann, ermöglicht es zu Themen vorzudringen, die weit über das Alltagserleben hinausgehen. So können abstrakte oder naturwissenschaftliche Themen erlebnishaft aufbereitet werden. Regentropfen können gespielt, Klangwellen getanzt und Gedanken im Körper lokalisiert werden. Viele dieser theatralen Elemente leben vom Überraschungscharakter, der unser Gehirn in den Aufnahmemodus schaltet.
Mit Hilfe von Clownerie wird eine humorvolle positive Atmosphäre erzeugt. Sie lebt von dem Moment, in dem die Alltagserfahrung durchbrochen wird und etwas überraschend Neues geschieht.. Dabei ist die Anforderung an die pädagogisch handelnde Person nicht eine besondere schauspielerische Leistung oder die Herausforderung, besonders komisch auszusehen. Es ist wichtig zu wissen, was zum selbstverständlichen Alltag der Kinder gehört und eine Idee, wie ich diesen Alltag durchbrechen kann.
So kann man sich beispielsweise Socken nicht an den Füßen anziehen, sondern über die Ohren stülpen. Das Ergebnis ist ein großes Engagement der Kinder, diesen Fauxpas wieder zu berichtigen. Die Berichtigung muss jetzt verbal erfolgen (darauf zu bestehen ist die Aufgabe der Pädagog*innen) und am Ende eines gemeinsamen Forschungsprozesses (hier brauchen die Kinder oft ein wenig Unterstützung) erklären die Kinder: „Du musst den einen Socken an den einen Fuß, den anderen an den anderen Fuß anziehen“.
Es entsteht zu Beginn des Lernprozesses eine positive, humorvolle Aufmerksamkeit. Der große Wille, Wissen einzubringen, schafft die Motivation, mit entsprechenden Anweisungen die Socken an die richtige Stelle zu dirigieren. Es entsteht eine Gruppendynamik, in der sich alle Kinder produktiv einbringen. So wird die Situation zu Sprechanlass und Empowerment für die ganze Gruppe, in der sich Kinder mit unterschiedlichen Sprachkompetenzstufen einbringen können.
Überraschungsmomente können auch mit anderen Stilmitteln erzeugt werden: Gegenstände können sprechen, aus einem Koffer kommt ein unerwarteter Gegenstand, ein Geräusch (beispielsweise von einem Handy) kommt aus einer Zimmerecke. Ziel ist immer einen Fokus zu setzen, der Kinder aktiviert, Interaktionen und Sprechanlässe schafft.
Uns stehen jede Menge technische Hilfsmittel zur Verfügung, um diese Effekte zu nutzen. Mit einem Beamer können kleine Dinge plötzlich ganz groß aussehen, Geräusche und Sprache können mit Handy und Tablet-Computer aufgenommen und sofort wieder abgespielt werden. Gegenstände können mit Magie aufgeladen werden, da Technik manchmal auch für uns Erwachsene magisch wirkt. Auf einem Touchscreen eine Buchseite umblättern wird zu einem Erlebnis. Mit einer entsprechenden Inszenierung wird ein solches Interface zur Zauberei.
Vor der Überraschung steht das Geheimnis. Wenn Informationen rar gemacht werden, steigt ihr Marktwert und damit die Aufmerksamkeit. Fragen, die im Raum stehen, können so einfacher für eine ganze Gruppe verfügbar gemacht werden. Es entsteht ein gruppendynamischer Prozess, in dem plötzlich alle Kinder unbedingt wissen wollen, wie eine Antwort lautet. In diesem Prozess werden auch Kinder mitgenommen, die vorher noch verträumt mit anderen Gedanken beschäftigt waren und jetzt befürchten, etwas zu verpassen.
Eine solche Dynamik entsteht auch bei Mitmach-Aktionen. Ähnlich einem Rockkonzert gibt es einen Mitnahmeeffekt. Mit solchen Aktionen kann man eine unkonzentrierte, zerfahrene Gruppensituation wieder auffangen. Die Gruppe ist wieder in Aktion. Am besten werden die Aktionen mit körperlicher Bewegung oder Standortwechseln verbunden. Je dynamischer und präsenter man als Erwachsener agiert, umso erfolgreicher sind solche Aktionen. Sie erfordern deshalb eine hohe stimmliche und körperliche Präsenz. Man kann sich also mal richtig austoben und wie ein Rockstar agieren.
VERSTÄNDNIS
“Das neue Lernen heißt Verstehen” heißt ein Buch von Gehirnforscher und Science Slammer Henning Beck, welches die Bedeutung des Verständnisses von Lerninhalten in den Mittelpunkt stellt. Nicht die Sammlung von Informationen und Daten ist für unser Gehirn wichtig, sondern die Strukturierung und Systematisierung. Gerade in der Sprachförderung sind die Einordnung und das Verständnis von Wortschatz von zentraler Bedeutung. Hier wird die Wirkmacht von Theater- und Kunstpädagogik noch einmal deutlich. Mit diesen Methoden kann es gelingen, Sprache an Erlebnisse anzubinden. Mit Fantasie können neue Erfahrungswelten gebaut und Wortfelder erschlossen werden, die nicht alltäglich sind.
Das Rollenspiel ist dabei eines der zentralen und auch bekannten Mittel, Kinder zu einem Verständnis von Worten, aber auch von sozial-emotionalen Zusammenhängen zu führen. Die Möglichkeit ein*e andere*r sein zu können, sich verändert zu fühlen, ermöglicht Kindern spielerisch die Welt zu erobern. Gerade bei der Wortschatzerweiterung kann eine entsprechende Spielsituation für Verständnis sorgen, ohne dass man Worte mit vielen Worten erklären muss.
Was ist zum Beispiel ein Onkel? In einem Mama-Papa-Kind-Setting kommt der Bruder von Mama oder Papa zu Besuch. Vielleicht kommt er mit dem Fahrrad oder dem Bus. Er ruft kurz vorher seine Schwester (Bruder) an und das Kind begrüßt den „Onkel“ an der Haustür. Kinder spielen, beobachten und ziehen am Ende ihre Schlüsse. Sie finden selbstständig die Antwort auf die Frage: Was ist ein Onkel? Die Antwort wird dann in einem Reim gefestigt und in einem Kreisspiel allen Kindern der Gruppe verfügbar gemacht.
Seit Podcasts sich großer Beliebtheit erfreuen, wird auch klarer, wie Moderation zum Verständnis von Inhalten beitragen kann und wie unterhaltsam diese Form der Vermittlung ist. So übernimmt in einem meiner Lieblingspodcasts „Sag mal du als Physiker“ der Journalist Jens Schröder die Rolle des unbedarften, neugierigen Fragers. Wenn seine Gegenüber, der Teilchenphysiker Johannes Kückens und Wissenschaftsjournalist Michael Büker komplexe Zusammenhänge erklären, stellt er sich unwissend und übernimmt so die Rolle des Publikums. Am Ende fasst er seine neuen Erkenntnisse knapp und in eigenen Worten zusammen.
In der pädagogischen Situation übernimmt diese Rolle am besten eine Sprechpuppe. Beispielsweise kann die Sprechpuppe „Der Kleine Stern“ die neugierige, unwissende Rolle glaubwürdig spielen – sie kommt ja aus dem Weltall. Es erfordert zwar etwas Übung, sich mit der Puppe zu unterhalten, da man die beiden Stimmen gut unterscheidbar ansetzen sollte.
In der bildnerischen Umsetzung reflektieren Kinder ihre Welt. Je mehr sie ohne eine Erwartungshaltung oder einen Leistungsdruck an ihre bildnerische Arbeit herangehen, umso stärker wird diese Arbeit ein nonverbaler Ausdruck ihrer Verarbeitung von der Welt. Kinder finden mit Hilfe ihrer Bilder einen verbalen Ausdruck für Gefühle, Sichtweisen und Erlebnisse. Der Prozess der bildnerischen Umsetzung fördert eine konzentrierte, achtsame Auseinandersetzung. Insbesondere bildnerische Methoden, die Raum für Experimente und Zufälle lassen, bei denen das Werk der Kinder eine Rückkopplung zum Schaffensprozess erlaubt, sind geeignet, Fantasie und Reflektion bei Kindern anzuregen. So entsteht ein tieferes Weltverständnis, welches Kindern erlaubt, diese Welt auch sprachlich neu zu erfassen.
In einer Inszenierung können Tanz, Bildnerisches Gestalten und Musik mit dem Theater zusammenfließen. Die Interaktion kann nachhaltig für ein Verständnis von Inhalten sorgen. Der Erlebnischarakter einer größeren Theaterinszenierung fördert das nachhaltige Memorieren von Lernstoff. In einer Inszenierung ist es möglich, kleine Gesten, Alltagsgegenstände und Begegnungen mit Bedeutung aufzuladen. Kinder haben eine große Offenheit für einen mystischen Zugang zur Welt. Sterne können vom Himmel gezaubert werden, Puppen werden zu lebendigen Wesen und Geräusche schaffen eine besondere Atmosphäre. Die schauspielerische Verwandlung kann wie eine große Zauberei inszeniert und Gegenstände mit Bedeutung aufgeladen werden. Kinder tauchen so in eine Lernwelt ein, in der sie konzentriert und motiviert Verständnis von der Welt aufbauen. Eine ganz besondere Art der Inszenierung ist darüber hinaus das Schattentheater. Denn diese Form der Umsetzung ermöglicht eine kreative Integration aller Methoden.
Teil der Inszenierung kann die Personalisierung von Gegenständen sein. Ähnlich unserer Vorstellung von animistischen Religionen, in der Pflanzen, Tiere und Gegenstände ein eigenes Leben haben, können Kinder ihrer Umwelt Leben einhauchen. So entsteht etwas, was für Kinder ausgesprochen wichtig ist: Beziehung. So wie ein Kuscheltier lebendig wird, tröstet und alltäglicher Begleiter*in wird, können im pädagogischen Alltag Teile der Umwelt mit Magie aufgeladen werden. Es ist ein großer Unterschied, ob ich von einem Erwachsenen erklärt bekomme, dass eine Tasse, “Tasse” heißt oder ob sich die Tasse bei mir persönlich vorstellt: „Guten Tag, ich heiße Tasse.“ Auch eine Berichtigung der Wortwahl durch den Gegenstand hat wesentlich mehr Charme und positive Ausstrahlung als das Korrektiv durch Erwachsene.
ÜBUNG
„Nochmal, nochmal!“ Kinder lieben Wiederholung. Im pädagogischen Alltag wird das Wiederholen leider oft zum Pauken und ist daher nicht mehr so positiv besetzt. Mithilfe von theater- und kunstpädagogischer Methoden gelingt es, die Wiederholung, das Üben wieder attraktiv zu gestalten. So wie in Kinderliedern und -reimen, in Spielen und spielerischen Wettkämpfen schon immer das wiederholende Lernen zu Hause war, so kann es mit Fantasie gelingen, Übungsherausforderungen immer wieder neu in eine solche Form zu bringen.
Selbstverständlich gibt es jede Menge Reime im Rahmen der Frühförderung - sowohl klassische als auch neue. Sie werden in verschiedenen Foren, Büchern etc. weitergereicht und vermittelt. Um allerdings gezielt und situationsbezogen reagieren zu können, ist es sinnvoll, in der täglichen Arbeit zu trainieren, Sprache spontan zu rhythmisieren und in Reime zu fassen. Hier können Kinder aktiv einsteigen. Sie üben dabei, kreativ mit Sprache umzugehen, Synonyme zu finden und Sprache als fantasievollen Raum zu erleben. Die „künstlerische Freiheit“ vermeidet richtig und falsch, zaubert wunderbare Wortschöpfungen und manchmal auch einfach nur lustigen Kauderwelsch. Freiheit und Experimentierfreude lösen den Leistungsdruck des „Richtig und Falsch“ auf und schaffen so Offenheit für Korrekturen.
Lieder ergänzen Reime mit weiteren lernförderlichen Aspekten. Musik als emotionale Sprache bereichert und unterstützt das bis dahin kognitiv Erfasste. Noch stärker als Reime nehmen Kinder Lieder mit in ihren Alltag. Ohrwürmer begleiten sie und machen so das wiederholende Üben zum Kinderspiel. Mit Liedern gelingt das Ideal, dass Kinder ohne Aufforderung ganz selbstständig mit Freude und Lust Texte wiederholen. Dies gelingt vor allem dann, wenn bei der Einführung von neuem Liedgut eine entsprechende Inszenierung für positive Atmosphäre sorgt. Deshalb sollten Lieder in einen Zusammenhang gestellt werden, der die Inhalte verdeutlicht und Erlebnischkarakter hat. Durch Bewegung (Tanz oder Fingerspiel) wird dieser Charakter ergänzt und verstärkt. Besondere Bedeutung gewinnen Lieder, die von den Kindern entwickelte Texte oder Textteile enthalten. Mit Hilfe von Musik Apps kann dies auch im pädagogischen Alltag von musikalischen Laien umgesetzt werden. Der gemeinsame Schaffensprozess, der mit diesen Hilfsmitteln ermöglicht wird, stärkt die Selbstwirksamkeit der Kinder in Bezug auf Sprache. Er stärkt außerdem die Wahrnehmung, dass Sprache weit über den Alltagsgebrauch hinaus Ausdruck und Entfaltungsmöglichkeiten bietet.
Rituale dienen dazu, tägliche Routinen und lernförderliche Gewohnheiten zu schaffen. Diese regelmäßigen Ereignisse sollen Vorfreude schaffen, strukturelle Sicherheit geben und Handlungsklarheit geben. So wie beispielsweise das tägliche Zähneputzen nicht jeden Tag neu in Frage gestellt wird, können Verhaltensweisen etabliert werden, die regelmäßiges Üben selbstverständlich in den Alltag einbauen. Wie bei anderen theater- und kunstpädagogischen Elementen spielt die Form der Einführung und Inszenierung eine große Rolle. Das kreative Setting, die Geschichte, in die das Ritual eingebettet ist, ist wichtig und idealerweise Teil einer größeren Fantasiewelt. Das Ritual sollte alle Sinne ansprechen. Wie in religiösen Ritualen, können Gerüche, Klänge, Bewegungen und Raumgestaltung eingebunden werden. Wenn Rituale positiv besetzt und mit Bedeutung aufgeladen werden, entstehen alltägliche Gewohnheiten, die Gemeinschaft stiften und Lernen unterstützen. Die Wiederholung wird als entspannend und beruhigend wahrgenommen. Konfrontative Situationen werden vermindert, ermahnende Worte und negative Botschaften werden vermieden. Um die positive Rezeption der Rituale zu unterstützen, sollten diese partizipativ entwickelt werden. Gerade weil Rituale auf einer seelichen Ebene berühren, ist es wichtig, Vorerfahrungen, kulturelle Prägungen, mögliche Traumata oder Ängste wahrzunehmen und zu berücksichtigen. In Kooperation mit den Kindern können so tägliche Routinen entwickelt werden, mit denen auch eine Bearbeitung von schwierigen Themen sowie sozial-emotionales Lernen gelingen können.
Wie in vielen religiösen Ritualen spielt das chorische Sprechen auch in der Pädagogik eine große Rolle. Inhalte gewinnen an Kraft und alle Kinder der Gruppe werden mitgenommen. Es stärkt das Gemeinschaftsgefühl. Kinder, die eben noch verträumt in anderen Welten waren, sind wieder im Thema.
Welche Bedeutung und Kraft chorisches Sprechen hat, ist mir persönlich durch eindrückliches Theatererlebnis deutlich geworden. Bei einer Inszenierung von "Berlin Alexanderplatz" spielten unter anderem auch Laien mit. Und zwar Insassen von Berliner Gefängnissen, die im Publikum verteilt waren und in die Inszenierung eingebunden waren. Ein großer Teil der Textarbeit wurde durch präzises chorisches Sprechen geleistet. Durch die Verteilung im Raum gewannen die Texte nochmals an Kraft. Das Ergebnis hatte eine beeindruckende Intensität und einen hohen Erlebnischarakter.
Auch wenn in der Kindergruppe diese Intensität so nicht erreicht wird und werden muss, so wird an diesem Beispiel deutlich, welche hohe Kraft von diesem theatralen Stilmittel ausgeht. Insbesondere, wenn Reime und Bewegung mitgenutzt werden, entsteht eine Dynamik, die das Memorieren der Inhalte verstärkt und eine hohe emotionale Dichte erzeugt.
Ob Brettspiele, sportliche Wettkampfspiele oder auch Videospiele: Spiele bieten eine Vielfalt an Lern- und Übungspotential. Im Allgemeinen sind Spiele - vom Puzzle bis zum Sprachförderspiel - bereits ein integrativer Bestandteil der Arbeit in Kitas und Grundschulen. Daher ist eine Vertiefung an dieser Stelle nicht notwendig.
Interessant im Zusammenhang mit theater- und kunstpädagogischen Methoden ist der kreative und situationsbezogene Umgang mit dem Thema Spiel. Das Entwickeln oder Übernehmen von klassischen Spielideen und Spielzielen in der täglichen Arbeit ist der Ansatz, der in unserer Methodik im Mittelpunkt steht. Dafür werden Strukturen für das partizipative Entwickeln von Regeln benötigt. Es sollen Fragen beantwortet werden: Wie kann die Vermittlung von Regeln ohne viel Erklärung und kognitive Ansprache gelingen? Wie kann durch modellhaftes Vorspielen diese Vermittlung auch bei Kindern ermöglicht werden, deren sprachliche Kompetenz im Deutschen für komplexe Erklärungen unzureichend ist? Welche kulturellen Hintergründe sind zu beachten? So kann das Thema „Spiel“ neu belebt werden und unabhängig von finanziellen Ressourcen und vorhandenem Material für den pädagogischen Alltag fruchtbar gemacht werden.
BEWEGUNG
Gerade in der Frühförderung ist die Ankerung von Themen mit Hilfe des Körpers von großer Bedeutung. Auch für ältere Kinder gibt es Ansätze, bei bestimmten Themen den Körper mit einzubeziehen. So hat die Anthroposophie dieses Thema schon im 19. Jahrhundert aufgegriffen und neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung zeigen auf, wie unterstützend ein ganzheitlicher Ansatz beim Memorieren von Lerninhalten sein kann. Im Zusammenhang mit theater- und kunstpädagogischen Ansätzen priorisiere ich den kreativen und situationsbezogenen Ansatz. So kann vorhandenes Material angepasst, aber auch neue Elemente aus den Lernzielen heraus gestaltet werden. Wie kann ich den "Wasserkreislauf'' tanzen? Auch abstrakte Inhalte und Themen können in Bewegung umgesetzt und dadurch besser durchdrungen werden. Die Bewegung ist ein wichtiger Beitrag zum Lernerlebnis.
Das Etablieren von Symbolbewegungen und Gesten bietet eine Möglichkeit, auf nonverbaler Ebene Inhalte zu klären und Sprache zu verdeutlichen. Dabei kann der Rückgriff auf alte Bild- und Körpersprache sinnvoll sein. Wie sitzt eine Prinzessin? Wie schaut eine Hexe? Woran erkenne ich einen Piraten? An diesen Beispielen wird deutlich, wie sehr klassische Rollenmuster über diese Gesten vermittelt werden und wie wichtig es ist, sehr bewusst damit umzugehen und eventuell eine neue Rezeption dieser Muster anzuregen. Genderthemen können bearbeitet werden, indem man, ähnlich einer paradoxen Intervention, Kinder dazu anregt, sich die ganze Bandbreite dieser klassischen Muster anzueignen und so aus ihrem klassischen Rollenverhalten auszubrechen. Der Pirat wird zur Piratin, die Schönheit einer Prinzessin steht auch den Jungs als Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung und die Hexe muss nicht zwangsläufig böse, sondern sie kann auch weise sein.
Darüber hinaus gibt es viele Gesten, die Charaktere und Handlungen, wie den zerstreuten Professor, die fürsorgliche Mutter, das Schlafen, das Abschiednehmen etc. verdeutlichen, die das Erzählen von Geschichten lebendig machen und das aktive Miterleben und damit das Verständnis der Inhalte erhöhen. Sobald eine gemeinsame Bild- und Bewegungssprache in einer Gruppe etabliert ist, können so einfacher neue Geschichten entwickelt und durchgespielt werden. Auch hier möchte ich das Augenmerk auf die Inszenierung und das gesamte Setting richten. Sinnvoll ist es, eine solche Lern- und Spielwelt über einen längeren Zeitrahmen zu entwickeln. Symbolbewegungen und Gesten können dann kreativ und partizipativ entwickelt werden und müssen nicht zwangsläufig auf vorhandene Muster zurückgreifen.
Tanz und Fingerspiel sind ein etabliertes Mittel um Inhalte zu verdeutlichen und zu ankern. Textinhalte werden begleitet und/oder kommentiert. Worte werden lebendig und Lieder werden zum ganzheitlichen Erlebnis. Sinnvoll ist es, bei den einzelnen Bewegungen auf den „Wortschatz“ der Gesten und Symbolbewegungen zurückzugreifen. Eine Begrüßung wird mit Winken verdeutlicht, die Zeigefinger stellen Personen oder Themen in den Mittelpunkt, die gefalteten Hände an der Wange sind Ausdruck für Ausruhen oder Schlafen. Der Aspekt des synchronen zeitlichen Ablaufs ist für die Gruppenerfahrung wichtig und schafft, wie bei allen Tanzerfahrungen, ein positives Gemeinschaftsgefühl. Der gemeinsam erlebte Rhythmus und die damit verbundene Körpererfahrung triggert Glücksgefühle.
Isolationsübungen sind Körperbewegungen, die sehr achtsam und bewusst ausgeführt werden. Solche Übungen verstärken Körperwahrnehmung und gezielte Bewegungserfahrung. Aus einem Herumtoben wird eine achtsame, gezielte Aktion. Durch die, wie bei vielen theater- und kunstpädagogischen Methoden gängig, Einbindung in ein Setting, gelingt es, die Übungen nicht als Einschränkung, sondern als Bereicherung zu vermitteln. Kinder brauchen hierbei durchaus Unterstützung durch Erwachsene. Beim Blick in den Himmel oder zur Seite bewusst nur den Kopf zu bewegen, kann ganz gezielt unterstützt werden, indem man die Hände auf die Schultern legt und damit den Fokus auf diesen Körperteil setzt, der in diesem Fall ruhig gehalten werden sollte.
Diese Übungen sind für Kinder eine Ermächtigung, bewusster und liebevoller mit ihrem Körper umzugehen. Sie schaffen damit die Voraussetzung für mehr Konzentration und Offenheit für Lerninhalte.
Spielerische Freiheit
In dem Artikel ist deutlich geworden, welche produktiven Beiträge theater- und kunstpädagogische Methoden zum Thema “Lernen” gerade in Kita- und Grundschule leisten können. Trotzdem tauchen in Workshops bei praktischen Übungen immer wieder Bedenken auf: ”Ich mach mich doch nicht zum Affen!” oder "Bei den Kindern bekomme ich das vielleicht hin, aber hier habe ich Angst, mich zu blamieren.'' Mit diesem Dilemma möchten wir in unseren Workshops bewusst umgehen. Denn es ist gerade das körperliche Erleben innerhalb des Workshops, welches den Lernprozess und die Adaption der Methoden im Alltag ermöglicht. Auch für die Pädagog*innen wird durch ein Lern-Erlebnis die Nachhaltigkeit des Workshops gewährleistet. Es ist deshalb unabdingbar, den Ursachen der Bedenken auf den Grund zu gehen und gangbare Lernschritte aus diesen Unsicherheiten heraus anzubieten.
HINDERNISS
Eine erste Erklärung für die Unsicherheiten bietet unsere Persönlichkeitsstruktur. So steht bei theater-und kunstpädagogischen Ansätzen immer wieder die Annahme im Raum wie: “Hierfür sollte man begabt sein, das ist einfach nichts für jeden.'' oder “Es liegt an der Persönlichkeit, ob man mit solchen Methoden arbeiten kann oder will oder auch nicht.''
Die Persönlichkeitsstruktur wird in der Psychologie unter anderem mit den sogenannten Big Five beschrieben. Hier gibt es zwei Merkmale, Extraversion und Offenheit, die in unserem Zusammenhang von großer Relevanz sind. Diese Merkmale beeinflussen, wie wir in Gruppen agieren und wie leicht wir uns auf neue Situationen einlassen. Die Persönlichkeitsforschung hat dabei zwei für uns wichtige Erkenntnisse gewonnen: Zum einen sind Grundstrukturen unserer Persönlichkeit nur schwer zu verändern, gleichzeitig wünschen sich viele Menschen, genau dies zu tun.
Was bedeutet dies für das Vermitteln von theater- und kunstpädagogischen Methoden? Menschen, die eher introvertiert und weniger offen sind, setzen sich oft unter einen großen Leistungsdruck. Für einen gelingenden Lernprozess ist dies eher hinderlich. In Workshops achten wir deshalb darauf, dass wir insbesondere auf eher introvertierte Personen eingehen und diese ermutigen, sich auszuprobieren. Wir bieten kreative Wege und Methoden, um Lernfortschritte für alle zu erreichen.
Wie schon im vorigen Abschnitt angedeutet, erleben wir gerade bei Fortbildungsinhalten, die nicht unserer Persönlichkeitsstruktur entsprechen, Stress und Leistungsdruck. Dies wird durch die kulturellen Prägungen, die wir mit Lernen verbinden, verstärkt. Leider ist eine Fehlerkultur, die ganzheitliches Lernen ermöglicht, nach wie vor unüblich. Wir sind oft ungeduldig mit uns selbst. In der Gruppe wird dieser Vorbehalt dann ergänzt durch ein sehr starkes Gefühl: die Scham.
Die Scham ist, wie die Angst und der Ekel, ein Gefühl, das tief in uns verankert ist. Scham dient dazu, uns deutlich zu signalisieren, wenn wir uns nicht gruppenkonform verhalten. Sie hat für uns Menschen die Funktion, unser Verhalten so zu kontrollieren, dass wir nicht aus der sozialen Gruppe ausgeschlossen werden. In der Zeit, als Menschen in kleineren Gruppen umhergezogen sind, war dies überlebenswichtig. In unserem Workshopzusammenhang ist das leider kontraproduktiv. Die Scham verhindert unseren Spieltrieb. Diesen wieder zu beleben, ist eine der Aufgaben unserer Workshops.
CONCLUSIO
Theater- und kunstpädagogische Methoden bieten Wege zu großer Freiheit. Der Druck, vor den Kindern besonders gut zu performen, wird abgelöst von einem gemeinsamen Gestalten mit den Kindern. Das gelingt auch in schwierigen pädagogischen Situationen. Hierfür ist es sinnvoll, den kreativen Muskel zu trainieren und sich eine spielerische Freiheit zu erarbeiten.