Fachartikel: Sozial-emotionale Entwicklung mit Theater- und Kunstpädagogik unterstützen

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von Christian Liebisch

Aus der Haut fahren - pädagogische Arbeit mit belasteten Kindern

Bei der Arbeit mit Kindern, aber auch in der Familie, gibt es immer wieder Situationen, in denen man am liebsten aus der Haut fahren möchte. Der Grund dafür ist, dass Kinder nicht so einfach aus ihrer Haut heraus können. Das, was sich in ihrem Verhalten ausdrückt, sind Bedürfnisse, die vielleicht schon längere Zeit nicht mehr befriedigt werden konnten. 

Die Gründe für das Entstehen von originellen oder besonderen Verhaltensweisen können sehr vielfältig sein. In den meisten Fällen kommen mehrere Ursachen zusammen und man spricht von einer Multikausalität. Die Folgen von Trennung der Eltern, Erkrankung oder Verlust einer Bezugsperson, Arbeitslosigkeit, Armut oder andere belastende Lebensereignisse spiegeln sich oft im Verhalten der Kinder wider. Werden die Handlungsweisen und Motive des Kindes als Zustand von Überforderung, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Trauer oder Wut verstanden, gelingt es besser, Beziehungsangebote zu entwickeln, um Teufelskreise erfolgreich zu durchbrechen und Stagnation bzw. sich verfestigende Verhaltensmuster zu vermeiden. [Marie-Anne Raithel 02.09.2019] Quelle: https://www.kita-fuchs.de/ratgeber-paedagogik/beitrag/verhaltensoriginelle-kinder-eine-besondere-herausforderung/

Im folgenden Artikel möchte ich aufzeigen, welche Möglichkeiten Theater- und Kunstpädagogik bieten, diese Teufelskreise zu durchbrechen. Es sind unsere jahrelangen Erfahrungen in der Arbeit mit geflüchteten und sozial-emotional belasteten Kindern, die deutlich machen, wie hilfreich diese Arbeitsweisen sein können.

In eine neue Haut schlüpfen - Ansätze aus der Theater-  und Kunstpädagogik

Grundsätzlich ermöglicht Theater- und Kunstpädagogik einen neuen Standpunkt, eine neue Sichtweise auf emotionales Geschehen. Dies geschieht auf einer ganzheitlichen Ebene. Ich kann spüren und erleben, dass ein Ausbrechen aus den eingeübten Mustern möglich ist. Ich kann mich in einer neuen Rolle, einem neuen Verhalten ausprobieren, mich selbst neu entdecken. Dies gilt sowohl für Kinder, wie auch für Erwachsene. Dieser Rollenwechsel, dieses Schlüpfen in eine neue Haut, ist ein wichtiger Bestandteil der Theater- und Kunstpädagogik. Mit  Beispielen zeige ich auf, wie diese Arbeit konkret aussehen kann und welche Wirkweisen dabei die Kinder unterstützen.

  • Arbeiten mit einer Handpuppe

Mit einer Handpuppe können stellvertretend Konflikte ausgehandelt und durchgespielt werden. So wird spielerisch Kinderverhalten gespiegelt und den Kindern damit eine verantwortungsvolle Haltung erlebbar gemacht. Darüber hinaus können Kinder gegenüber einer Puppe die Rolle eines Erwachsenen erproben. Der Rollentausch bricht hierarchische Verhältnisse auf und stärkt das Verantwortungsgefühl, ohne die eigenen Bedürfnisse aus dem Blick zu verlieren. Kinder möchten gerne helfen und sind bereit, klärend zu unterstützen. So erarbeiten sie sich eine Haltung, die darauf achtet, Regeln und Absprachen zu befolgen und einzuhalten. 

Kinder, die belastende Erfahrungen mit Erwachsenen haben, können über eine Handpuppe ein neues Vertrauensverhältnis aufbauen. Sie können empathisches Verhalten einüben, wenn die Handpuppe krank, schüchtern oder traurig ist. Zudem kann über die Arbeit mit der Handpuppe der Kontaktaufbau zu Erwachsenen in schwierigen Situation erleichtert werden. Oftmals sprechen Kinder sogar zu Anfang ausschließlich mit der Puppe, um erst später Erwachsene in die Kommunikation mit einzubeziehen.

In unseren Workshops vermitteln wir den adäquaten Umgang mit einer Handpuppe. Denn für die erfolgreiche Arbeit ist es wichtig, dass die Handpuppe eine klar definierte Rolle bekommt und Identifikationsfigur für die Kinder ist und bleibt. 

  • Clownerie und Humor

Warum finden wir die Clownerie lustig? Es ist das Durchbrechen unserer Alltagserfahrung. Wir erwarten, dass wenn der Clown eine Flöte hervorholt, er anfängt sie zu spielen, indem er mit dem Mund hinein pustet. Wenn er dies aber plötzlich mit der Nase tut, finden wir das urkomisch. 

Es ist genau die Überraschung, die unser Gehirn braucht, um sich für Lernprozesse zu öffnen. Während sich das Gehirn im Standardmodus damit beschäftigt, den Alltag abzuwickeln, kommt die Überraschung als Ausrufezeichen im Gehirn an: Hoppla hier ist etwas neu, ist etwas anders, da gibt es was zu lernen. Klar, die Überraschung kann auch der Finger an der heißen Herdplatte sein - bei der Clownerie ist die Überraschung  hingegen positiv besetzt, sie  bringt uns zum Lachen.

Bei eingefahrenen Verhaltensweisen, die immer gleiche Reiz-Reaktionsschemata auslösen, eignet sich diese Methodik, ähnlich der paradoxen Intervention. Mit ihr lässt sich ein Teufelskreis durchbrechen und eine gemeinsame positive Basis aufbauen. Gemeinsames Lachen schafft eine Beziehungsebene, auf der neues Verhalten wachsen kann. Konflikten kann mit Humor die Spitze genommen werden. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich ein Kind lautstark ermahne bestimmte Regeln einzuhalten oder ob ich dies mit Hilfe von Fantasiesprache durchspiele. So kann mit Clownerie und Humor eine emotionale Alternative für das Kind entwickelt werden, das die eingefahrenen und erprobten Muster durchbricht.

  • Tanz, Musik und Bewegung

Musik ist eine universelle Sprache, mit der Emotionen transportiert werden. Wenn wir diese in Tanz und Bewegung umsetzen, schaffen wir eine intensive gemeinsame Erfahrung. Unsere Herzen schwingen im gleichen Takt. Schon ein Song kann uns glücklich machen. Beim Tanzen wird ein ganzer Cocktail an Glückshormonen ausgeschüttet. Musikinstrumente bieten die Möglichkeit, einfach nur  “Krach zu machen” oder sich Auszutoben. Ohne Leistungsdruck etwas bewegen, die eigene Selbstwirksamkeit spüren, etwas Neues ausprobieren - sind die Aspekte, die Kinder daran reizen.

Wenn solche Aktionen kanalisiert werden, üben die Kinder nonverbale Kommunikation ein. Dafür ist die Wahrnehmung des Gegenübers wichtig. Für alle Kinder ist dies ein Lernprozess, der mit 3 bis 4 jahren beginnt. Mit Musikinstrumenten kann dies motiviert eingeübt werden. Statt einfach nur auf die Trommel zu hauen, kann das Kind üben, dem Instrument leise Töne zu entlocken. So entsteht das Erleben von Geben und Nehmen, von Zuhören und Aktion. Kinder üben, sich zurück zu nehmen und anderen (Klang-) Räume zu geben.

Musik und Tanz ermöglichen in besonderem Maße gemeinsames Erleben. Dafür ist Teamarbeit und  gemeinsame Konzentration nötig. Am Ende steht der Erfolg der Gruppe. Das gemeinsame Zeitgefühl, die  Synchronisation der Abläufe und der gemeinsam erlebte Rhythmus stärken die Teamfähigkeit und schaffen Geborgenheit in der Gruppe.

Musiktherapeutische Ansätze unterstützen Kinder dabei, achtsamer und liebevoller mit sich selbst umzugehen. Viele Kinder mit traumatischen Erfahrungen haben Schwierigkeiten, die Augen zu schließen oder sich entspannt auf den Boden zu legen. Mit Hilfe von Klangspiel und Klangschalen können mit den Kindern ein Wege zu Ruhe und einem positiven Körpergefühl aufgebaut werden. Kinder, die zuerst mit einem Klangspiel eine ruhige Atmosphäre aktiv erzeugt haben, können danach besser zur Ruhe kommen. 

Mit den Möglichkeiten neuer digitaler Musikinstrumente, eröffnet sich noch ein weiterer Entwicklungsraum, der für die sozial-emotionale Kompetenz besonders wichtig ist. Über das Arbeiten mit MusikApps können Kinder Klänge, Sprache oder Geräusche aufnehmen und daraus ihren eigenen Sound, ihre eigene Geschichte entwickeln. Gerade Kindern, die sich schwer tun zuzuhören, gelingt es mit Hilfe der eigenen Musikproduktion intensiver und geduldiger zu lauschen. Das Entdecken der eigenen Beiträge schafft Konzentration und Bezug zum Gehörten. Die Musikergebnisse können dann in Tanz und Bewegung umgesetzt werden. Mit dem eigenen Bezug zur Musik ist die Motivation, sich aktiv einzubringen besonders hoch.

  • Bildnerisches Schaffen 

Mit Hilfe von bildnerischem Gestalten gelingt es Kindern eine Sprache für ihre Innenwelt zu finden. Auch im therapeutischen Rahmen wird dies häufig eingesetzt, um unausgesprochene oder unaussprechliche Themen an die Oberfläche zu bringen. Für eine individuelle Bearbeitung ist aber klar ein therapeutisches Setting notwendgig.

In der Gruppensituation geht es stärker darum, Kindern einen befreiten Zugang zu ihrem Gestaltungspotential und ihrer Fantasie zu schaffen. So wurde innerhalb des Lern-Erlebnis-Programm Der Kleine Stern® eine spezielle Methode entwickelt, die eine Kommunikation mit dem eigenen Schaffen ermöglicht. Die Methode “Sternenkarten malen” verbindet Zufallsergebnisse mit dem Gestaltungswillen der Kinder. So werden ihnen der eigene Erwartungsdruck und fremder Leistungsanspruch genommen. Dies erzeugt Erfolgserlebnisse, die Kinder befähigen, sich länger zu konzentrieren und in einen Flow zu kommen.

  • Theater, Spiel

In eine neue Haut  schlüpfen, das bedeutet klassischerweise Rollen- und Theaterspiel. Rollenspiel ist ein wichtiges Lernwerkzeug für Kinder. Erlebtes wird durchgespielt und verarbeitet. Eigene Handlungsoptionen werden ausprobiert. Es ist die ideale Plattform für soziales Lernen. Dieser Ansatz kann Kinder unterstützen auch schwierige Lebenssituationen zu verarbeiten. Schüchterne Kinder können laut sein, laute Kinder leise. Gerade bei immer gleichen Reaktionsmustern kann in einer Rolle Neues ausprobiert werden.

In unseren Workshops vermitteln wir, wie solche Rollen eingeführt werden können. Wie kann es gelingen, diese Rolle positiv zu besetzen? Wie schaffen es Kinder, sich auf eine Rolle einzulassen? Wie schaffe ich ein Setting, welches dies erleichtert? Wie lade ich diesen Prozess mit Bedeutung auf?

Wenn das Spiel als Theater auf eine Bühne gebracht wird, entsteht ein weiterer wichtiger Förderaspekt: Kinder erleben Selbstwirksamkeit, sie erleben wichtig zu sein und auch mal im Mittelpunkt zu stehen. Sie bringen sich konstruktiv ein, sie gestalten und am Ende haben sie ein Ergebnis, welches gesehen und geachtet wird. Das Theater und die Inszenierung bietet dann noch die Möglichkeit, alle künstlerischen Arbeiten zusammen zu bringen. Der selbstgestaltete Soundtrack wird zur Theatermusik, die gemalten Bilder werden zum Bühnenbild und der Tanz wird zur Musicaleinlage. So verbindet sich soziales Lernen mit einem eindrücklichen Erfolgserlebnis, an welches sich Kinder und Eltern gerne zurückerinnern.

So ein Theater!

Dieser Beitrag beruht auf insgesamt 18 Jahren Erfahrung bei der Arbeit mit theater- und kunstpädagogischen Methoden in Kitas und Grundschulen Berlins und den Erfahrungen des Teams der Edusation gGmbH in der vorschulischen Sprachförderung.  Ich hoffe mit den Beispielen und Anregungen aufgezeigt zu haben, welche Wirkmacht diese Methoden entfalten können. In diesem Sinne hoffe ich, dass sie vermehrt genutzt werden und  damit  viel Lebensfreude in den pädagogischen Alltag bringt.